Die Erleichterung darüber, dass wenigstens einige der von Hamas verschleppten Geiseln jetzt endlich freikommen, ist ungeheuer groß; ebenso wie die Erleichterung, dass wenigstens für einige Tage die Waffen in Gaza jetzt schweigen, so dass die dort lebenden Menschen vielleicht einen kurzen Moment des Aufatmens haben. Nicht weniger groß bleiben die Sorgen: Was geschieht mit den Geiseln, die jetzt nicht freikommen? In welchem Zustand – physisch und psychisch – kommen die Geiseln, insbesondere die Kinder, zurück? Werden sie jemals wieder ein einigermaßen freies, unbeschwertes Leben führen können? Wie geht es nach dem Ende des Waffenstillstandes weiter? Wird es jemals möglich sein, die Gewaltspirale zu durchbrechen und zu einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts zu kommen?
Seit Wochen überdecken die Berichte über den Krieg im Gazastreifen und die Diskussionen über die (völker-)rechtlichen und moralischen Grenzen des Selbstverteidigungsrechts Israels die Erinnerung an das Ereignis, das diesen Krieg ausgelöst hat – das Massaker vom 7. Oktober und die anhaltende Verschleppung unschuldiger Menschen jeden Alters und verschiedenster Nationalitäten. Der 7. Oktober ist aber nicht vorbei. An diesem Tag – vielleicht muss man sich das gelegentlich wieder klar machen – wurde vor unseren Augen, live übertragen im Internet, das vermutlich schlimmste Pogrom seit der Shoah verübt, geboren aus einem eliminatorischen Antisemitismus in übelster Ausprägung. Unbeschreibliche Verbrechen, mit einer sadistischen Brutalität verübt, als hätten die Täter sich (und vielleicht haben sie genau das wirklich getan) die SS-Schergen der deutschen KZ zum Vorbild genommen. Ein Angriff, gerichtet auf die Vernichtung des jüdischen Staates, weil er ein jüdischer Staat ist, und auf die Vernichtung jüdischen Lebens, weil es jüdisches Leben ist; dabei spielte dann auch die Staatsangehörigkeit keine Rolle mehr. Und wir erleben einen erschreckenden Ausbruch von Antisemitismus in unserem Land (der allerdings auch schon zuvor – wenn auch vielfach negiert oder „kleingeredet“ – in alarmierendem Umfang vorhanden und eigentlich nicht zu übersehen war), Hass und Gewaltverherrlichung auf den Straßen und im Internet, die „Kennzeichnung“ von Häusern, in denen Jüdinnen und Juden leben, Beschimpfungen und Bedrohungen von Menschen, die sich öffentlich gegen die Hamas und gegen Antisemitismus stellen und sich (ohne „Wenn und Aber“) zum Existenzrecht Israels bekennen.
Jetzt, gut sieben Wochen später, bleibt die überaus ernüchternde Erkenntnis: Spontane und massenhafte Bekundungen von Empathie und Solidarität wie nach den Anschlägen auf das World Trade Center, die Redaktion von Charlie Hebdo und das Bataclan oder auch wie nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat es nach dem 7. Oktober 2023 nicht gegeben. Was stattdessen stattgefunden hat: Ein rapider Anstieg antisemitisch motivierter Straftaten. Und im Übrigen: Das „dröhnende Schweigen“ eines großen Teils der Zivilgesellschaft. Der Pianist Igor Levit hat von der „Kälte“ gesprochen, die ihm seit dem 7. Oktober entgegengeschlagen ist. Allein dies ist überaus beschämend für uns alle.
Was ist der Grund für diese Gleichgültigkeit, für dieses Ausbleiben von Empathie? Das ist die offene Frage, eine brennende Wunde. Selbst die Plakate, mit denen auf das Schicksal der entführten Kinder aufmerksam gemacht werden sollte, sind im Stadtbild nur ganz vereinzelt zu sehen.
Bis zum 7. Oktober konnte man vielleicht denken, dass jedenfalls das noch eine übereinstimmende Grundüberzeugung ist, die uns in der „Mitte der Gesellschaft“ zusammenhält, dass wir – aus Gründen, die nicht weiter erläutert werden müssen – tatsächlich eine besondere Beziehung zu Israel haben. Dass wir uneingeschränkt auf der Seite Israels stehen, wenn Kräfte (wie die Hamas im Gaza, die Hisbollah im Libanon, die Huthirebellen im Jemen, das Mullahregime in Teheran) an der Vernichtung des Staates Israel „arbeiten“. Dass die Existenz des Staates Israel als sicherer Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden in der ganzen Welt auch für uns essentiell wichtig ist. Und dass wir uneingeschränkt an der Seite aller Jüdinnen und Juden stehen, wenn dieselben (und andere) antisemitischen Kräfte jüdisches Leben vernichten wollen (und dies, wie jetzt auf so schreckliche Weise geschehen, auch in die Tat umsetzen). Gibt es einen solchen Konsens noch? Gab es ihn jemals?
Dabei steht die Spaltung, die wir in unserer Gesellschaft gerade erleben, ja nicht allein, sondern fügt sich ein in eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Spaltungen in den letzten Jahren. Nach und nach zerbröselt der Grundkonsens, von dem wir gedacht hatten, dass er unsere Gesellschaft zusammenhält. Und je mehr dieser Grundkonsens verschwindet, um so gefährlicher wird es: Auch und gerade für die Demokratie und den Rechtsstaat, die Grundpfeiler dieses Staates also, auf den wir mit gutem Grund stolz sind, weil er uns inzwischen gut 75 Jahre Frieden, Wohlstand, Entfaltungsmöglichkeiten und demokratische Teilhabe beschert hat. Alles steht inzwischen auf dem Spiel, und deshalb glauben wir, dass die Zeit der (angeblich vornehmen) Zurückhaltung vorbei ist. Wir können uns diese Zurückhaltung nicht mehr erlauben. Wir sind überzeugt, dass wir inzwischen alle – und auf allen Ebenen – gefordert sind und dass daher in essentiellen Fragen auch die säuberliche Trennung zwischen Privatem und Beruflichem nicht aufrecht zu erhalten ist.
Der Nahostkonflikt als Ganzes ist höchst kompliziert. Aber dort, wo eine klare Positionierung möglich und überhaupt nicht kompliziert ist, sollten wir uns auch eindeutig positionieren. Im Konflikt zwischen der Hamas, einer terroristischen Mörderbande, die sich die Vernichtung jüdischen Lebens und die Vernichtung Israels zum Ziel gesetzt hat und dieses Ziel mit sadistischer Grausamkeit verfolgt, und den Opfern der Hamas, können wir nicht beobachtend am Rande stehen. Wir wollen daher das Mindeste tun, was eigentlich in dieser Situation zu erwarten ist, und unser Bekenntnis zu Israel und gegen alle Terrororganisationen, die sich die Vernichtung Israels und jüdischen Lebens zum Ziel gesetzt haben, deutlich machen. Deshalb gilt für uns uneingeschränkt:
Um es klarzustellen: Das ist keine Stellungnahme zu dem Nahostkonflikt als Ganzes. Keine Rechtfertigung der Regierung Netanyahu, der Siedlungspolitik, der Gewalt von radikalen Siedlern, keine Rechtfertigung der Art der Kriegsführung Israels, die zu kritisieren natürlich vollkommen legitim ist. (Allerdings sollte, wer diese Kritik übt, auch in der Lage sein, Alternativen aufzuzeigen, die Israel nicht einfach nur zumuten, mit der terroristischen Bedrohung zu leben.) Es ist keine Rechtfertigung dafür, den Palästinensern das Recht auf Eigenstaatlichkeit, den Zugang zu Ressourcen wie Wasser etc. vorzuenthalten. (Allerdings wollen wir uns auch hier nicht den leider ebenfalls weit verbreiteten einseitigen Schuldzuweisungen anschließen. Die Mitverantwortlichkeit anderer Akteure wie korrupter, antidemokratischer, teils verbrecherisch agierender Regierungen und Regime auf palästinensischer wie auf arabischer Seite können nicht ausgeblendet werden.)
Und erst recht selbstverständlich ist, dass die Solidarisierung mit Israel nicht bedeutet, dass uns z. B. das Leben palästinensischer Kinder weniger wichtig wäre als das Leben israelischer Kinder etc. Darum geht es nicht. Unsere Empathie und unsere Solidarität gilt selbstverständlich auch den Palästinensern – aber nicht der Hamas und sonstigen gewaltsamen, antisemitischen Ideologien, die letztlich der Sache der Palästinenser den größten Schaden zufügen. „Die Antisemiten sind die größten Feinde des palästinensischen Volkes“, soll Issam Sartawi, ein PLO-Politiker, Anfang der 80er Jahre gesagt haben. Er hat das Aussprechen dieser Wahrheit aber nicht lange überlebt: 1983 wurde er von Terroristen der Abu-Nidal-Gruppe ermordet. Deshalb gilt für uns auch:
Berlin, im November 2023
BÖRGERS Rechtsanwälte Partnerschaft mbB
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